Blutmond

Dezember, 2023

Jo Nesbø

am Beispiel von „Blutmond“

Nach langer Zeit hatte ich wieder einen Roman von Nesbø in der Hand. Noch dazu einen aus der - bis jetzt – dreizehnbändigen Serie um den Kommissar Harry Hole. Mit dieser Figur begann der Autor seine Laufbahn als Krimi-Autor. Sein erstes Buch, „Der Fledermausmann“, schrieb er angeblich zum größten Teil auf einem Rückflug von Australien. Aus Langeweile. Ich las es erst nach einigen anderen Harry-Hole-Büchern, und fand die erste Hälfte auch langweilig. Sehr ungewöhnlich für Bücher dieses Autors.

Die meisten Romane der oben erwähnten Serie erschienen in rascher Abfolge. Als die Abstände zwischen den Neuerscheinungen länger wurden, dachte ich an die Schwierigkeit, jedes Mal noch eine Steigerung hinzuzufügen. Und die Steigerung von Spannung und Schockieren der Leser war das, was ich beim Lesen in „richtiger“ Reihenfolge bei fast jedem Buch empfand. Nesbø schafft es wie kein anderer, die Vorstellung des Lesers auf eine noch „faire“ Art und Weise – zum Teil nur auf einer halben Seite, zum Teil über einige Seiten hinweg – in eine vollkommen falsche Richtung zu führen.

Mit „fair“ meine ich, dass er dem Leser keine falschen Informationen gibt, viele Informationen gibt, wesentliche Informationen – und doch stellt man sich zwischendurch etwas ganz Anderes vor. Das für mich Grandiose an ihm ist, dass er über Seiten hinweg eine Situation schildert, sehr präzise schildert, und der Leser sich aus dem Kontext des bis dahin Gelesenen vollkommen sicher ist, dass er nun Zeuge von diesem oder jenem ist, bzw. sein wird.

Diese Situation ist oft eine, in der man vor lauter Aufregung innerlich vibriert, weil man meint, dass der – mutmaßliche – Mörder eine nicht unwesentliche Romanfigur in einem der nächsten Momente auf seine charakteristische Art töten oder zumindest einmal in seine Gewalt bringen wird. Und dann – ist alles ganz anders.

Nesbø macht diese Ver-Führung des Lesers auch in anderen Situationen, in denen es nicht um (befürchtete) Gewalt geht. In Erinnerung ist mir die seitenlange Schilderung eines Begräbnisses, bei der ich mir sicher war, wer nun – zu meiner großen Trauer – in der beschriebenen kirchlichen Abschiedsfeier – im Sarg lag. Es war dem dann nicht so.

Das weiter oben angesprochene „in seine Gewalt bringen“ teilt Nesbø mit so manch anderem Autor. Es ist so wirksam, weil es Angst erzeugt. Die Angst eines Menschen kann man als „Angst im Moment“ (im schlimmsten Fall Panik) oder Angst vor der Zukunft (im schlimmsten Fall eine zermürbende Sorge) beschreiben. Auch die „Angst im Moment“ hat einen Zukunftsaspekt. Und wenn es um die nächste Minute oder Sekunde geht. Das, was bereits eingetroffen ist, kann nur mehr die Grundgefühlen Wut, Trauer oder Scham auslösen.

Bei den Romanen von Nesbø und manch anderen bin ich mir unsicher, ob es sich um Krimis oder Thriller handelt. Krimis der besseren Sorte lassen dem Leser auf faire Art die Möglichkeit, mitzudenken und sich damit selbst auf die Suche nach dem oder der Übeltäterin zu begeben. Thriller wollen Spannung und damit Angst oder Hoffnung (bzw. Verlangen) erzeugen. Nesbø kann beides gut.

Beim Lesen guter Bücher kann man seinen Bildungshorizont erweitern. Beim „Blutmond“ wird dies für die meisten in Bezug auf das Verhalten von Tieren und einfacheren Lebewesen passieren. Dies ist hier mit einer Grausamkeit verbunden, die mich nicht unberührt gelassen hat. Und mich einige Male die Frage stellen ließ, ob ich noch ein weiteres Buch dieser Art lesen möchte.

Norwegen glaubte ich vor dem Lesen des besprochenen Buches gut zu kennen. Meist fand ich mich in der Kultur wieder, die ich dort bei meinem letzten Aufenthalt vor zehn Jahren wahrgenommen hatte, nachher über Beschreibungen anderer. Nesbø beschreibt beim im Jahr 2022 erschienen „Blutmond“ hauptsächlich eine reiche Gesellschaftsschicht am Ende der Corona-Epidemie. Mit all der Hässlichkeit eines mehr und mehr übersteigerten Egos, verstärkt durch gebräuchliche Verhaltensweisen in sozialen Medien. Eine Illusion von mir zum Positiven der norwegischen Alltagskultur sackte ein Stück zusammen. Nesbø hat auch das geschafft.

Helmut S.